Coming Out am Arbeitsplatz

Wie ich mein Coming Out am Arbeitsplatz erlebte und dabei überraschende Unterstützung erlebte.
Nachdem ich das Coming-out mit meiner Frau und die Aussprache mit meinen Eltern hinter mir hatte, traute ich mich noch nicht direkt im Anschluss, das Gespräch auf Arbeit zu suchen. So lebte ich noch einige Wochen im ständigen Wechsel zwischen zwei Welten – der männlichen Rolle im Job und der weiblichen Rolle in meinem privaten Umfeld. Privat war ich nur noch Frau, doch auf der Arbeit spielte ich zunächst weitere sechs Wochen lang das Gegenstück.
Am meisten genoss ich die Wochenenden, an denen ich einfach ich selbst sein konnte, ohne mich verstellen zu müssen. Ich lackierte mir die Fingernägel, schminkte mich und trug feminine Kleidung, in der ich mich endlich wohlfühlte. Diese Momente gaben mir meine verlorene Lebensfreude zurück. Meine Familie – meine Frau und unsere beiden Kinder – unterstützte mich stets und hielt immer zu mir. Ihnen war es egal, wenn wir wegen mir missbilligende Blicke von Fremden ernteten. Für sie zählte nur, dass es mir besser ging.
Doch ein Teil meines Lebens trug immer noch einen bitteren Nachgeschmack: mein Arbeitsleben. Vor allem Montage waren für mich die schlimmsten Tage. Ich nannte es die „Montagsdepression“. Bereits am Sonntagabend begann sie, wenn ich den Nagellack entfernen musste, um am nächsten Tag auf der Arbeit nicht aufzufallen. Auch das Augen-Make-up abzuwischen war für mich oft ein kleiner Kampf. Ich kannte mich mit Kosmetika noch nicht gut aus und wusste nicht, was wirklich zuverlässig funktionierte.
Wie oft stand ich abends vor dem Spiegel und rieb mir die Augen, nur damit montags keine Spuren meines Wochenendes übrigblieben. Auch während der Arbeitswoche fühlte es sich falsch an, Herrenkleidung zu tragen. Zu der Zeit arbeitete ich gemeinsam mit meinem Chef in einem Büro als „Online-Shop-Manager“. Umso mehr freute ich mich auf den Feierabend. Das Erste, was ich zu Hause tat, war, die verhasste Kleidung vom Leib zu reißen und mich wieder so anzuziehen, wie ich mich wirklich fühlte. Dann konnte ich endlich wieder atmen.
Ein Selfie verändert alles
Der 26. Mai 2020 war Herrentag. Diesen Tag hatte ich in meinem Leben noch nie gefeiert – ich konnte mich nie als Mann identifizieren und die typischen Saufgelage waren ohnehin nichts für mich. Stattdessen verbrachte ich den Tag lieber mit meiner Frau und unseren Kindern. Natürlich war ich auch an diesem Tag als Frau unterwegs, geschminkt und in femininer Kleidung. Unterwegs machte ich ein Selfie und veröffentlichte es in meinem WhatsApp-Status mit den Worten: „Endlich im Leben angekommen.“
Dieser Status wurde von gefühlt jedem gesehen, der in meiner Kontaktliste stand – darunter auch mein Chef, seine Frau (die ebenfalls in der Firma arbeitete) und alle Kollegen. Doch zunächst kam keine Reaktion. Auch ich sprach das Thema am folgenden Montag nicht an. Ich ließ die Situation erst einmal sacken.
Am Dienstag sprach mich mein Chef schließlich an, der mir sonst immer am Schreibtisch gegenübersaß:
„Was hat es mit deinem WhatsApp-Status auf sich?“
Mit dieser Frage hatte ich zwar gerechnet, doch ich fühlte mich trotzdem ganz klein – wie ein Kind auf der Anklagebank.
Ich erzählte ihm von meiner Transidentität und dass ich mich in der männlichen Kleidung extrem unwohl fühlte. Es wäre eine große Erleichterung für mich, mich auch auf Arbeit feminin kleiden zu dürfen. Zu meiner Überraschung zeigte er volles Verständnis für mein Coming Out am Arbeitsplatz. Allerdings riet er mir zunächst dazu, „neutrale Kleidung“ zu tragen.
Später kam auch seine Frau dazu und sprach mir ebenfalls ihre Unterstützung zu:
„Mach dir keine Sorgen“, sagte sie. „Wir stehen voll hinter dir.“ Und das taten sie auch.
Der Moment der Wahrheit mit den Kollegen
Am nächsten Morgen stand ich ratlos vor meinem Kleiderschrank. „Neutrale Kleidung“, hatte mein Chef gesagt – aber was bedeutete das eigentlich? Ich entschied mich für eine Jeans und einen pinken Hoodie, den mir meine Frau geschenkt hatte, und ging so zur Arbeit.
Wie immer war ich die Erste im Büro. Ich kochte Kaffee für das Team und startete die Rechner. Ein wenig später trafen die Kollegen ein, gefolgt vom Chef und seiner Frau. Als mein Chef mich im pinken Hoodie sah, meinte er:
„Vielleicht solltest du mit deinen Kollegen sprechen, bevor Gerüchte hinter deinem Rücken entstehen.“
Also nahm ich meinen Mut zusammen und sprach mit jedem Kollegen einzeln. Alle reagierten erstaunlich verständnisvoll. Sie sagten, es zähle der Mensch, nicht das Geschlecht. Diese Gespräche änderten absolut nichts an meinem Ansehen oder meiner Stellung in der Firma. Ich hatte das Gefühl, dass mein Chef an diesem Tag fast nervöser war als ich – er wollte unbedingt sicherstellen, dass das Betriebsklima nicht litt.
Nachdem ich mit allen gesprochen hatte, fragte er mich ausführlich über die Reaktionen. Es war für uns beide ein sehr emotionaler Moment. Danach gingen wir erst einmal zusammen eine rauchen und atmeten tief durch.
Ein neuer Anfang
Nach dem Coming Out am Arbeitsplatz, passte ich meine Kleidung und mein Aussehen immer mehr meinem gefühlten Geschlecht an. Ich lackierte mir die Fingernägel, trug dezentes Make-up – auch wenn ich wusste, dass ich damit nicht ganz auf den Rat meines Chefs hörte. Doch ich hatte die Rückendeckung seiner Frau, die schützend die Hände über mich hielt. Mein Chef akzeptierte mich, wie ich war, und machte sich keine Sorgen darüber, was die Kunden denken könnten. Dafür haben er und seine Frau bis heute meinen allergrößten Respekt.
Ich bin unglaublich dankbar für die Akzeptanz in dieser Firma. Ich weiß nicht, wie mein Weg verlaufen wäre, wenn ich hier auf Widerstand gestoßen wäre. Ihre Unterstützung hat mir die Kraft gegeben, weiterzugehen.
Das Coming Out am Arbeitsplatz war nur eins von vielen Outings in meinem Leben. Erfahre auch, wie es bei meiner Frau oder bei meinen Eltern ausging.
Hast du selbst ähnliche Erfahrungen im Job gemacht? Oder wünschst du dir, so viel Verständnis zu erleben? Schreib mir deine Gedanken gerne in die Kommentare.
Mini-Ratgeber: Coming Out am Arbeitsplatz – 3 Tipps für mehr Sicherheit
Suche dir Verbündete
Sprich zuerst mit einer Vertrauensperson im Unternehmen (z. B. Vorgesetzte oder HR). Das kann helfen, den Weg für dein Coming Out am Arbeitsplatz zu ebnen.
Wähle den richtigen Zeitpunkt
Überlege dir, wann du dich am wohlsten fühlst. Ein ruhiger Moment abseits vom Stress des Arbeitsalltags kann viel Druck nehmen.
Informiere dich vorab
Auf Diversity Kartell findest du hilfreiche Tipps, für dein Coming Out am Arbeitsplatz und was du dabei beachten solltest.
Hinweis
Du Möchtes dich auch im Job outen?
Unsere Coming-Out-Tipps helfen dir, den richtigen Moment zu finden und mit Mut voranzugehen. Plus: kostenlose PDF zum Mitnehmen.